Mikroklima
“Das Potenzial zur klugen Anwendung der Vernunft kann am Beispiel des Umgangs mit einer der ältesten Problemstellungen der Architektur aufgezeigt werden: dem Klima. Das Klima hat im 20. Jahrhundert aufgehört, epistemisch ein reines Objekt der Natur zu sein. Unsere Lebensweise und unsere Klimatisierungsformen erzeugen anthropogene Atmosphären, sowohl im Inneren wie im Äusseren von Gebäuden. In unserer Forschung im Tessin stehen deshalb Mikroklimata als Artefakte der Architektur im theoretischen Zentrum unseres Interesses. Aus dieser Forschung heraus möchte ich nun einige Bemerkungen machen. Die grundlegende Einsicht der Stadtklima- Forschung besteht darin, dass Städte ihrem Klima nicht nur ausgeliefert sind, sondern – gerade umgekehrt – dieses ebenso hervorbringen. Ein solch wechselseitiges, am Anthropozän-Diskurs geschultes Verständnis des Stadtklimas ist heute systematisch in den Architekturunterricht einzubringen. Im didaktischen Mittelpunkt stehen dabei Mikroklimata als entwerferische Artefakte. 'Jedes Wohnhaus, das neu errichtet wird', so Rudolf Geiger in Das Klima der bodennahen Luftschicht, der Gründungsschrift der modernen Stadtklima-Forschung, 'schafft aus dem einheitlichen bodennahen Klima über dem Baugrund eine Fülle von Einzelklimaten.' Diese grundlegende klimatologische Einsicht gilt gleichermassen für das Innere wie das Äussere eines Gebäudes. Indem sich die Komfortforschung im 20. Jahrhundert ganz auf die Stabilisierung und Homogenisierung der thermischen Bedingungen im Inneren der Gebäude versteift hat, wurde versäumt, die so reichhaltige architektonische Erfahrung unterschiedlicher Mikroklimata weiter zu kultivieren.”